Reto Lanzendörfer / Leben / Journal 2000

1997  1998  1999  2000  2001  2002  2003  2004  2005  2009

rohe Auszüge aus meinem Journal 2000:

1.3.2000  Lliria - Valencia

Der Winter ist vorbei hier.
Die Schattenplätze sind rar.
Die Bäume an der plaza noch klein,
sie wachsen langsam.

Je mehr Mama, um so lauter ihr Organ.

Die Noemi-Gruppe ist die Grösste.
Marie und Loli wurden fündig,
sie promenieren jetzt mit Begleitung.
Eva, Rosío und Sara sind die zugänglichsten.

Noch habe ich Schatten.

Antonio kommt.
Ein Portrait von Antonio.
Er will nicht wahrhaben, dass mir chicas
besser gefallen als chicos.

Meine Portraits finden überall Anerkennung,
ausser beim Portraitierten selbst.
Vielleicht sind sie zu wahr.
Ich beschönige nicht.

Das Portrait von Antonio gelingt.
Plötzlich ist er da, auf dem Blatt,
aufhören, nicht ausschmücken.

ca 5.3.2000

Hoi P.
Ich male "nur" Portraits im Moment, so übe ich natürlich auch, meine Emotionen zu beobachten und zu kontrollieren, alles gelassen zu nehmen, mich zu konZENtrieren auf Modell und Bild. Das inmitten von kommentierenden Kindern, welche mich stossen, mir mein Malwasser umkippen auf den daneben liegenden Pullover. Andere untersuchen das Innere meines Rucksackes. Die Mütter schreien nach den Kleinen, welche sich zu weit entfernen vom Geschehen. Väter unterbrechen mich, indem sie mich ansprechen, mich kaufen wollen, und mein Modell plaudert mit allen und fragt immer wieder, ob es noch lange dauere, es hätte nicht viel Zeit.
Unter genau diesen Umständen gelang mir ein Portrait, das war ZEN pur. Leider sind diese Momente noch selten, aber wer nicht übt, kommt nicht weiter.
Gruss Reto

24.3.2000

Der Kampf ist grausam, dem ich mich aussetze, ein Kind portraitierend, an der plaza. Langsam, ganz langsam nähere ich mich der Form. Es ist wie modellieren: Zuerst habe ich einen "Klumpen", an dem ich grosszügig wegschneide und ansetze. Die Ähnlichkeit kommt mit der Zeit. Die Kommentare fallen sofort, verunsichern Modell, beeinflussen und verärgern mich. Ich darf nicht resignieren und abbrechen, nein, immer weiter beobachten und notieren, was meine Augen sehen, solange das Modell ausharrt.
So wächst meine Arbeit, und die Kommentare wechseln und machen mir plötzlich wieder Mut.

Die Kinder sind nicht nachtragend.

Der Hirt macht sich nichts aus Menschen.

Marie 204

3/4.4.2000

Sara setzt sich zu mir auf die Bank.
Das freut mich.
Die Sonne scheint wieder.

Ein Portrait von Maria.
Sie ist die Schwester von Franziska,
der Schwiegermutter von Lola,
deren Tochter Marie ich heiraten könnte.
Sie hat zwei Kinder.

Bei den Gitanos (Zigeuner)
sind die Generationen zusammen.

Lola sagt, die Kinder hätten das angefangene
Bild weggeschmissen.

Manuel (Kind) sagt, das Bild sei zuhause.

Ich sage: Wir machen ein neues.

Ich denke: Das Bild ist versteckt
oder versteigert worden.
Es war nicht schlecht.
Vielleicht sehe ich es irgend wann einmal wieder.

Es leben 500 Gitanos hier in Llíria, sagt einer.
Ich kenne etwas über 100,
50 mit Namen
30 habe ich gemalt.
Es hat also noch viel Stoff hier für mich.

23.4.2000

Rebecca, die Neugierige, vergisst keines
meiner Worte.
Sie ist gut drauf heute.

Häschensara hat sich verheiratet
und lebt in der Pobla, sagt José,
war sie doch eines meiner Lieblinge
vor zwei Jahren.

Eine Guggenmusik marschiert vorbei,
heute an Ostern.

Eva nimmt schneller zu, als sie wächst.
Bei Noemi ist es umgekehrt.

Mann lebt nicht vom Sex,
sondern von der Vorstellung.
Alles ist Vorstellung, Einbildung.
Eindrücke sind nicht objektiv.
Was wir wahrnehmen, ist nicht wahr.
Wir sehen nur Wünsche.
Ich muss lernen, Neues zu sehen.
Das geht, wenn ich nichts erwarte,
auf niemanden warte,
nichts Bestimmtes suche.

Fragt mich ein Kleiner heute auf der plaza:
"Auf wen wartest Du?"
"Auf den, der kommt. Kommt niemand, dann warte ich auf niemanden." Also ich warte nicht, ich lebe.
Und es kommt Rebecca mit ihren zwei Schwestern.
Ich packe meine soeben gekauften Wasserfarben aus, und wir malen.

Wieso ich male, will Rebecca wissen.
Die Kinder haben gute Fragen.

Die Bräuche werden des Geschäftes wegen erhalten, vertieft oder gar eingeführt.
Was haben Knallkörper mit Ostern zu tun?

Wieso werden die Kleinsten in Anzüge gesteckt,
in denen sie nicht hinfallen dürfen
beim Ballspiel?

Die Fenster sollte man im Monat des Windes
schliessen.

2000

Zu den Gitanas:
Wie gesagt, so ab 15 wirds ernst mit der Liebe. Mann verlobt sich offiziell, um seine Angebetete ausführen zu dürfen. So Verlobungen sind grosse Feste: Flamenco, Gitarren, Singen, Tanzen, Essen, Trinken... Vielleicht darf ich auch mal mit, als Gast, nicht als Bräutigam.
Seit Kurzem gibt es im Dorf drei neue Paare: Marie (15), Loli (14), Maria (19) sind nun verlobt, immer herausgeputzt, gut geschminkt, flanieren sie mit ihrem Gatten an der Seite. Alle kenne ich schon von meinem letzten Besuch hier, vor zwei Jahren, da verbrachten sie noch mehr Zeit mit mir. So spazieren sie also die nächsten zwei Jahre im Dorf auf und ab, Seite an Seite, Arm an Arm, oder im Arm. Die Mädchen helfen zuhause im Haushalt, die Jungs ihren Vätern beim Handel mit irgendwelchen Antiquitäten. In die Schule geht man so bis zum dreizehnten Altersjahr. Warum auch so viel lernen?
Jammerschade, nicht?
Es gibt schlaue Mädchen,
die gerne etwas studieren würden.

Vielleicht verstehe ich mich gut mit den Kindern,
weil ich keine eigenen habe.
Ein "Manko" meinerseits also.

Zurück zu den Verlobten:
Geht es dann ums Heiraten, so werden die Mädchen kurz vorher geprüft, von einer speziell dafür bestimmten Frau bei Valencia.
Sie "entjumpfert" die Mädchen mit einem Tuch, welches wie ein Zeugnis nach Hause gebracht wird.

1997  1998  1999  2000  2001  2002  2003  2004  2005  2009

©  Reto Lanzendörfer    home