Reto Lanzendörfer / Leben / Journal 2003

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rohe Auszüge aus meinem Journal 2003:

Sa, 7. Dezember 2002 Mexico - Stadt

Der stete Wunsch,
Eindrücke festzuhalten,
sie mitteilen zu können.
Mit dem Flugzeug über Mexico,
und wenn sich die Häuser
im Horizont verlieren,
dann begreifst du,
dass du nie begreifen wirst,
wie gross die Stadt wirklich ist.

Wenn wir den Ort wechseln,
können wir staunen über Alltägliches.
Wir können fragen,
wenn wir staunen.
Und auf der Suche nach Antworten
haben wir die Chance
zu verstehen.

So, 8. Dezember 2002

Ein Fest, nachts,
im Herzen Mexicos,
auf einer Dachterrasse.
Kein Nachbar, der sich ärgert,
nur ein paar hohe, stumme Häuser,
die ragen in den Himmel.
Sterne gibt es hier nicht, nie.
Der Himmel wird nicht dunkel.
Laura kam mit vier Freunden,
nun hat sie einen mehr.
Ihr Gesicht erinnert mich an Y. aus Quito.
Es vereint offenbar jene Züge,
welche mich rufen.

Sa, 14. Dezember 2002

Wer glaubt, etwas gesehen zu haben,
und dann noch ein paar Schritte weitergeht,
der wird sehen,
dass dies nur der Anfang war.

Der Hochzeitstag
ist für das Brautpaar
nicht der schönste Tag im Leben,
sondern der anstrengendste.

20. Dezember 2002 Morelia - Mexico

Das Leben aufsaugen
wie ein trockener Schwamm,
das machen Augen und Ohren
hier in Morelia.

Ein Frühstück unter Arkaden
kann mir keiner verwehren,
und das bei Sonnenschein.

Das Lächeln, das du ausstrahlst,
kommt hier zu dir zurück,
und zwar unmittelbar.

In einer neuen Stadt anzukommen,
ist wie neu geboren zu werden,
mit dem Bewusstsein eines Erwachsenen.
Es ist wunderbar.
Traum und Wirklichkeit zugleich.
Der Sinn weist mir die Richtung.

30. Dezember 2002

Morelia hat viele Plätze, Parks und Arkaden, wo man sitzen kann, an der Luft, und die Sonne spüren, ein Buch lesend, oder ganz einfach schauen, die anderen Menschen anschauen, die zurücklächeln, was meine Seele nährt, wie die wärmende Sonne meinen Körper.
Jeder Tag ist ein Geschenk.

 

 

21. Januar 2003 Guadalajara - Mexico

Ich kann nicht reisen. Überall, wo ich ankomme, baue ich mir einen Freundeskreis auf, den ich ungern wieder verlasse. Es ist schön und traurig zugleich.

19. Februar 2003 Chihuahua - Mexico

Soeben angekommen, in Chihuahua, wo die Hunde herkommen.
Ein Hotel, die Tapete fällt fetzenweise von der Decke, will den Vorhang öffnen und die Stange fällt, wie im Film, zum Lachen.
Wie lange ich bleiben werde?
Brauchst du Cowboystiefel, Hut oder Hemd, so komm nach Chihuahua, eine Stadt, irgendwo im Norden Mexicos.
Eine neue Stadt zu erkunden, ist Leben pur.
Wo gehe ich hin?
Rechts, links oder geradeaus?
Wo trete ich ein?
Welche Kontakte vertiefe ich?
Entscheidungen, die das Leben bestimmen, und es gibt kein Zurück.
Ich selbst bestimme mein Leben durch mein ständiges Handeln.

21. Februar 2003 Tijuana - Mexico

Zwei Tage und eine Nacht durch die wunderbare Wüste. Gewitter, Hagel, Regen, Schnee, undichter, überfüllter Bus, mit Männern zwischen 15 und 25, in schwarzer Jeans, dunkler Jacke und mit kleinem Rucksack. Sie steigen aus, mitten in der Nacht, mitten auf der Strecke, nahe der Grenze, bei kalten Temperaturen. Ich wünsche viel Glück. Am Tag wird ihnen der Schatten fehlen.

Tijuana, wieder eine neue Stadt und wieder klopft mein Herz, vor Emotionen, nicht vor Angst. Ich bin schon drin, mitten drin.
Hier werde ich in den nächsten Tagen den Marsch über die Grenze machen.

23. Februar 2003 San Diego - USA

Ankommen, immer wieder ankommen, in einer neuen Stadt, heute gar im neuen Land. Die erste Busfahrt, das erste Gespräch, Hotel und der erste Spaziergang. Das erste Bier, alles ist so intensiv beim ersten Mal, keine Gewohnheit, keine Routine.
Ein Schach, das erste gegen einen Menschen, nicht virtuell, nein, 1:1. Ich bin nervös. Ich mache es meinem Gegner nicht einfach. Ein gutes Spiel, auch mein Gegenüber verpasst Chancen und gibt schliesslich auf, nach langem, harten Kampf. Es war nicht eindeutig, das Blatt wendete sich mehrmals.
Das erste Essen, mexikanisch natürlich, schmeckt wunderbar.
Bin also gut angekommen, jenseits der Grenze, in der anderen Welt.

12. März 2003 Santa Barbara - Kalifornien - USA

Ich darf nicht malen,
was die Leute wollen.
Die Leute sollen wollen,
was ich male.

15. März 2003 San Francisco - USA

Mexico Stadt bis San Francisco: Eine wunderbare Reise. Alles bisher Erlebte hilft, die Stadt aufzunehmen, wahrzunehmen. Erst eine Nacht hier, zwei Tage gewandert, praktisch ohne Pause, quer durch, und dem Ozean entlang. Nichts kann mich aufhalten. Ich komme in Fahrt, hier im Kaffee, mit Grüntee.
San Francisco, die letzte Stadt meiner Reise. Mir bleiben sechs Wochen für die eine Stadt.

 

18. März 2003

In San Francisco geht einer den ganzen Tag die Strassen auf und ab und schaut um sich, wie ein Irrer. Er komme von weit her, sagt man, und er sagt, er sei Maler.
Hier gibts nur schräge Vögel, normal zu sein, das wäre nicht normal.
Ein Hotelzimmer hat viel zu erzählen, sehr viel.
Frag dich nicht, wie malen, mal einfach drauf los. So kommt es besser.

10. April 2003

Und wieder hab ichs versucht, habs wenigstens versucht. Male ich nicht, bin ich auch unzufrieden. Zum Trösten sage ich mir, das "Nichtmalen" ist genauso wichtig wie das Malen. Das Zwischen-dem-Malen, so wie das mit den Zwischenräumen, der Raum, der leere Raum, die Leere. Zweiter Trost: Wenn ich es versuche und es nicht geht, dann kann das bedeuten: Dass etwas geht, wächst, sich verändert. Ich weiss dann: "wie nicht". Wie denn? Und je länger ich male, umso weniger weiss ich es.
Der Vordergrund verdirbt oft alles, zu gegenständlich. Ich muss den Vordergrund betrachten, gleich wie den Hintergrund. Da kommen wir zum Urproblem: Das Gehirn, das Wissen, welches sich einschaltet und meinen Geist ablenkt und so das Gefühl des Unzufriedenseins weckt. Dann ärgere ich mich an der brennenden Sonne, am Wind, an den Gaffern und an den Insekten, welche an der Leinwand kleben. Alles ärgert mich, ich selber ärgere mich.
Morgen komme ich wieder.

15. April 2003

Wann werde ich meinen Knopf der Verklemmtheit, der scheuen Verlegenheit und Unsicherheit lösen, in der Malerei wie auch im Leben?
Heute sah ich farbige Bilder, ohne Angst gemalt.
Wann werde ich endlich malen können, wie ein Kind, befreit vom Leistungszwang? Ich habe nichts zu verlieren.

19. April 2003

Wir dürfen die Kunst nicht suchen.
Sie kommt, wenn wir nicht daran denken.

28. Juni 2003 Chur - Schweiz

Lange habe ich keine Zigarette mehr gerochen.
Eine wirklich komische Gewohnheit der Menschen:
Rauch den andern ins Gesicht zu blasen
und sich selber zu vergiften.

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