Reto Lanzendörfer / Leben / Journal 1999

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rohe Auszüge aus meinem Journal 1999:

Mo, 23.3.1999  Vernazza Cinque Terre

Die Voraussetzungen sind gut. Ich habe viel Zeit, um mit den Jahren etwas Brauchbares zu machen. 
Und wenn einer, über Jahrzehnte, ehrlich seinen Weg geht, empfindet und fühlt, dann spürt man auch in seiner Arbeit etwas. 
Schwierig ist, ehrlich zu bleiben. Gefährlich wirds, wenn man gut verkaufen kann und einen Spürsinn entwickelt für das, was gefällt. 

Eine gute Portion Faulheit ist nötig, um die Bilder nicht tot zu malen, sie am Leben zu lassen. 

Es ist gut, von Zeit zu Zeit den Ort zu wechseln, den Standort, den Ort, von dem ich schaue. Ich darf nicht zu lange hier bleiben. Ich könnte mich hier in einem Sommer "reich malen", das ist keine Kunst. 

Ich hatte einen Auftrag, ein Herr mit einer grossen Kugel als Nasenspitze, ich erkenne ihn nur an seiner Nase, wollte ein Bild von seinem Haus. Ich wollte die Situation sowieso studieren, also malte ich. 
Als der Herr das dritte Mal erschien, war das Bild nach nicht allzu langem Kampf beendet. Ohne zu zögern, tönte ich ihm das fehlende Fenster an seinem Haus noch an. 
Hundert Franken war mehr als das Doppelte von seinen Erwartungen, also ging er murrend von dannen, ohne Bild. 
Täglich begegne ich Kugelnase und er fragt nach seinem Bild. "Es hängt in der Bar", antworte ich. Das Bild verdanke ich diesem Herrn, und es gefällt mir. Ich werde es ihm nicht verkaufen. 

So, 11.4.1999

Kunst ist künstlich 
ich versuche zu leben 

Hier kann ich mich auch besinnen, 
am Strom der Menschen. 
Kommt ein Zug an, ist es, 
wie wenn oben die Schleuse geöffnet wird. 

Es müssen einige Fotos existieren von mir, auf der ganzen Welt. Es liegt wohl an meiner alten Mütze, die ich mit meinen Farben hin und wieder auffrische. 

Die Einheimischen sind wärmer angezogen. Im Schatten ist es kühl und in der Sonne heiss. So sehe ich Mäntel und Bikinis. Hier frische ich mein Französisch und Englisch auf, lerne Italienisch und spreche Spanisch. Die ganze Welt trifft sich hier. 

Eine Sprache lernt Mann am schnellsten mit einer Freundin. 

"Licht im Schatten", Licht hats überall, denn wo kein Licht ist, ist schwarz, und schwarz kommt nicht vor. 
"Schattenfarbe", die Farbe des Schattens der Fussgänger, sie gehen zu Fuss, ist blau, ähnlich dem Himmel. Reflektiert sich der Himmel möglicherweise im Schatten der Fussgänger? Die piazza, von der Sonne direkt beschienen, wirkt dunkelgelbgrau. Licht ist überall, warm oder kalt. 

Die Kirche, eine Messe ist zu Ende. 

Caro geht nach Hause für ein paar Tage. 

Ich brauche ein Thema. Darf ich auch an zwei Themen arbeiten? "Schattenmaler", der Maler am Schatten. 

Warum sind Kirche und Boote attraktiv? Agaven auch. Warum erfreut man sich an der Farbe der Häuser? Die Farbe ist neu, früher waren die Häuser unverputzt, alles Bruchsteinmauerwerk. 

Die Maler kommen und die Fotoworkshops. 

Das Geschrei von biertrinkenden Gringas macht Kopfweh. 

Die Leute sind unachtsam 
und reden zuviel, 
oder sie achten auf Kleidung und Frisur. 

Caro und Martina sind abgereist, 
die Sonne geht schlafen, 
es wird kühl, 
also gehe ich rein, 
zu einem oder auch zwei Glas Frizzantino. 

Einverstanden, mein Thema ist Licht, und mit dem Licht erscheint der Raum, das heisst Tiefe. Schaue ich meine Arbeiten an, geht es tatsächlich um Licht. Natürlich lasse ich mir Raum für Intermezzos, welche jedoch in der Minderheit bleiben sollen. Es sind spielerische Versuche auf ein kommendes Thema. Licht als Kriterium meines Schaffens. Licht als Kontrollfrage; gings wirklich ums Licht? Oder blendete mich das schöne Boot? Thema könnte auch eine Farbe sein, blau oder rot. Bei meinen Agaven kommt auch die Form zum Licht. "Form und Licht", manchmal bleibe ich in der Form stecken. Meistens beginne ich mit Licht, mit grosszügigen Lichtflecken, schnell und locker. Dann kommt dunkel für Schatten. Bei Bedarf präzisiere ich nun die Form mit einer Zeichnung, welche ich darüber lege, mit feinerem Pinsel. Und weiter gehts mit Flecken, hellen und dunklen, immer korrigierend, die Sachen wandern auf der Leinwand, bis sie an ihrem Ort ankommen. Störende, helle, noch nicht definierte Flächen verdunkle ich mit einer Lasur. Licht kann auch diffus sein. Wichtig ist, dass man das Licht spürt. In Spanien war mein Thema ganz klar Licht. Ich muss beim Thema bleiben. 
Ich muss ohne Mühe malen. Sich Mühe geben ist falsch. Ich darf bemüht sein, die Flecken an den richtigen Ort zu bringen. 

 

Di, 13.4.1999

Die "Unverkennbarkeit" in meinen Arbeiten kommt natürlich, durch stetiges Arbeiten. Ist das überhaupt wichtig? Wichtig ist das Lernen, das Weiterkommen. 

Ein erfolgreicher Maler ist nicht immer auch ein guter Maler. 
Ich mache Fortschritte, lerne, bewältige Situationen leichter als vor einem Jahr. Die Begegnung mit M. bewegt mich zum Nachdenken, und das ist gut. Ich lerne mit jeder Begegnung. Er legt Wert auf Äusserlichkeiten, auf Benennung, Zuordnung, Einrahmung und Marktwert, auf die Fliesen. 
Der Raum in San Bernardino ist sehr schön gelegen, aber für mich nicht brauchbar. Will ich malen, muss ich aufpassen, nichts zu verklecksen, alles ist neu, und erst die schönen Fliesen. Eine Türe führt ins Schlafzimmer der Vermieterin, einer alten Mama. Ich könnte weder laut Musik hören, noch eine donna lieben, ohne an die Nachbarin zu denken. Der Raum ist hell und hat eine wunderbare Aussicht. Reden mit M. ist gut, er provoziert, leider bin ich zu langsam und drück mich missverständlich aus. Auch das kann ich üben. 

Das zweite wichtige Thema, an dem ich arbeite: "Mensch" 

Mo, 19.4.1999

Es ist gut, 
nichts zu tun, 
und es ist so gut 
wie unmöglich. 

Es gibt Menschen, 
die arbeiten hart 
an ihrer äusseren Erscheinung. 

Mi, 21.4.1999

Das, was der Künstler kurz vor seinem Tode schafft, hat Qualitäten, denn es beinhaltet die Erfahrung seines Lebens. 

Was ist, wenn einer, zu etwas berufen, einen anderen Beruf wählt?

Do, 29.4.1999

- Korrigieren ist besser als definieren 
- Bleib stets offen für Änderungen 
- Male, um zu sehen 
- Malen heisst auch: vergleichen und entscheiden 
- Wer weniger weiss, sieht mehr, das zeigen uns die Kinder 
- Malen ist lernbar 

Einer erklärt mir den Weg nach Monterosso, und ich will gar nicht nach Monterosso. Ich bin seit neun Wochen hier, das ganze Dorf kennt mich. Nun sagt einer, wo ich langzugehen brauche. Die Antwort wäre kurz und einfach: "Ich gehe nicht nach Monterosso." Während dem Malen studiere ich noch lange an diesem Irrtum herum. 
Sich gekränkt fühlen, behindert nur die eigene Arbeit. 

Fr, 30.4.1999

Soll ich wegen einer Fotoreportage für P. am Montag nach Baden reisen? Ich frage das Meer an einem für mich neuen Felsenstrand. 
Lange höre ich zu. 
Es sagt: "Komm morgen wieder, höre und vergleiche." 

So, 2.5.1999

Warum wandern die Menschen? 
Sie sprechen und telefonieren ohne Pause. 
Sie sehen keine Agaven 
und riechen keine Wälder. 
Sie hören auch keine Vögel. 
Will man was besprechen, 
sollte man stehen bleiben. 
Ich kann auch alleine wandern. 

Wenn man braun wird, weil man sich nach dem Baden an der Sonne etwas aufwärmt, dann ist das normal. Wer sich aber an die Sonne legt, mit dem Ziel, braun zu werden und den andern zu gefallen, der ist krank. 

Schade ist, dass Verse, die zum Nachdenken anregen, nur von den Menschen verstanden werden, die bereits denken. 
Mit meinen Bildern erreiche ich viele Menschen. Das ist eine Chance. 

Hier ist Mensch, da ist Natur.
Manchmal geht der Mensch in die Natur. 
Was macht er da? 
Er telefoniert 
und spürt nichts von der Natur. 

Ich verstehe, wieso beim Autolenken nicht gesprochen, geschweige denn telefoniert werden soll. Die Aufmerksamkeit fehlt. Wer spricht, sieht und hört weniger, und ist nicht da, wo er ist. Fortschritt in der Kommunikationstechnik bedeutet auch: Fortschritt bei der Erblindung der Menschheit. Ich komme Brao näher. 

Die Mädchen sind schön, 
bevor sie dick werden, 
und wie dick sie werden, 
sieht man an ihren Müttern. 

Wie das heisst, 
was die Menschen spielen, 
weiss ich nicht. 
Ich weiss nur, 
dass ich ein schlechter Mitspieler bin. 

Man darf Gewohnheiten und Bräuche immer wieder in Frage stellen. 

Ich bin wieder am Meer und versuche zu hören. Ich muss viel ruhiger werden, um zuhören zu können. Meine Gedanken springen wild umher. Ich weiss nicht, wann ich reisen werde. Ich weiss, dass ich morgen nicht reise. Ich bin nicht bereit, nicht fertig, kaum angefangen. Es ist zu früh, um abzureisen. Verzeih mir P. Wärst Du hier, Du würdest mich verstehen. 
Das Meer ist stiller heute, viel ruhiger. Um es zu verstehen, muss auch ich still und ruhig werden. Das Wasser ist heute sanft, ganz zärtlich streichelt es den Felsen, auf dem ich sitze. So vorsichtig wie Mund und Hände, wenn sie sich, immer um Erlaubnis bittend, in die erogeneren Zonen der Frau streicheln. Das Meer sagt ganz deutlich: "Gehe noch nicht fort, ich mag dich und kann dir noch vieles zeigen." 

Vor einem Jahr verkaufte ich mein erstes "Agavenbild", an Pino vom Dorf hier. Und genau diese eine Agave wird nun sterben. Wie ein Phallus stösst sie ihren Baum aus sich heraus, täglich höher, ich schätze 20 cm. Das ist einmalig im Leben jeder Pflanze, das heisst, sie trocknet. Der trockene Baum bleibt noch Jahre stehen, wird immer schräger, bis er schliesslich fällt. Ich darf nun also zusehen, wie die Agave ihre Kinder zeugt. Ich weiss nicht, ob es eine noch bescheidenere Pflanze gibt. Sie wächst praktisch ohne Wasser, in der grössten Hitze, wo es wenig oder keine Erde gibt, auf den Felsen. Sie lässt sich Herzen in die Blätter ritzen, ja ganze Blätter werden abgeschnitten, oder von der Sonne verbrannt. 
Die Pflanze weiss, wann Zeit ist zu gehen. 
Was "Geduld" ist, lerne ich von der Agave.

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